“Ich wurde in meiner Kindheit von meinem Stiefvater sexuell misshandelt” Jenja, 31
[ANMERKUNG: In dieser Story geht es um Kindesmissbrauch. Achte auf dich und deine Gefühle und lese die Geschichte nur, wenn dich solche Inhalte nicht zu sehr belasten.]
Ich bin mit fünf Jahren aus Kasachstan nach Deutschland gezogen, habe aber russische Wurzeln. Um zu meiner eigenen Sexualität zu finden, musste ich mich von meinen Wurzeln befreien. Meine Mutter hat mir eine eher passive Rolle in der Gesellschaft vorgelebt, die sich zu Hause jedoch um alles kümmert, kocht, sauber macht, den Mann betüddelt. Eine Mutter, die sich 100% für die Pflege der Familie, Instandhaltung des Haushalts und der Erziehung der Kinder "Care-Arbeit“ aufopfert. Und das Ganze mit Liebe und Herz – angeblich. Ich sollte das werden, was sie selbst nicht geschafft hat zu werden. Eine Frau, die davon völlig uneigennützig erfüllt ist und am besten jedes Wochenende einen Apfelkuchen backt und wenn der Mann ein Bier haben will, bringt die Frau es ihm natürlich.
Es fing an, als ich neun Jahre alt war
Mein “Freikämpfen” aus diesem Rollenbild war mit Verletzen und verletzt werden verbunden. Ich wurde in meiner Kindheit von meinem Stiefvater sexuell misshandelt. Es fing an, als ich neun Jahre alt war, und ging über ungefähr fünf Jahre. Natürlich wusste ich, dass das so nicht in Ordnung war. Aber wie man sich vorstellen kann, wurde ich mit Schuldgefühlen und Angst mundtot gemacht und habe angefangen, mehr an mir zu zweifeln als am Täter.
Angefangen hatte es in der dritten Klasse am Tag meiner Kommunion, also am Tag, an dem ich doch eigentlich zu Gott finden sollte. Mein Stiefvater hat mich zum Oralsex gezwungen. Ich hatte zur Kommunion eine Musikanlage bekommen und eine CD. Mein Stiefvater kam nachts betrunken in mein Zimmer, hat die CD angemacht und mir befohlen, mich auszuziehen. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Song, ein Lied von den Sugarbabes, das damals in den Charts war.
Wenn nicht du, dann eines der anderen Geschwister
Nach außen war mein Stiefvater ein Moralapostel und angeblich gottesfürchtig, aber zu Hause, wenn meine Mutter nicht da war, war er alles andere. Meist nutzte er die sexuellen Übergriffe als Strafe. Kam ich z.B. mal zu spät nach Hause, konnte ich mir die Strafe selbst aussuchen, “entweder ich schlage dich 20-mal mit dem Gürtel oder ich darf dich da unten küssen“ und zeigte auf meine Vulva. Ich glaube, er wollte mich brechen, Macht ausüben, vielleicht sogar sich rächen dafür, dass ich ihm intellektuell und sprachlich in Deutschland überlegen war. Beide meiner Eltern waren auf mich angewiesen, als sie nach Deutschland kamen. Ich bin zu den Behörden mitgegangen, habe übersetzt und war für bürokratische Prozesse verantwortlich. Gleichzeitig war ich als Älteste viel für die Erziehung und das Wohlergehen meiner Geschwister verantwortlich - dabei war ich selbst noch ein Kind. Später wurde während des Missbrauchs auch gedroht: „Wenn nicht du, dann eines der anderen Geschwister.“ Da ich mich für diese verantwortlich fühlte und sie schützen wollte, ließ ich es zu.
Als ich mit 13 Jahren meine Periode bekam, hatte ich ständig furchtbare Angst, schwanger zu werden
Am Anfang waren die sexuellen Übergriffe selten, doch als mein Stiefvater in die Nachtschicht wechselte, wurde es regelmäßig, eigentlich jedes Wochenende. Er holte mich nachts aus dem Hochbett und trug mich ins Wohnzimmer. Meist wollte er mich lecken und holt sich selbst dabei einen runter, aber es kam auch zur Penetration. Jedes Mal ohne Kondom. Als ich mit 13 Jahren meine Periode bekam, hatte ich ständig furchtbare Angst, schwanger zu werden. Diese Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft ist leider geblieben, auch trotz Verhütung in meinen späteren Beziehungen. Deshalb habe ich mich letztes Jahr für eine Sterilisation entschieden. Ich habe schon zwei eigene Kinder und habe meine Geschwister großgezogen, die Familienplanung ist für mich damit abgeschlossen. Die Sterilisation gibt mir zum einen eine gewisse mentale Sicherheit und gleichzeitig das Gefühl, meinen Körper wieder ein Stück weit zurückgewonnen zu haben. Das ist also eine Entscheidung für mich und nicht nur gegen Kinder.
Ganz selten bin ich während des sexuellen Missbrauchs zum Orgasmus gekommen. Ich habe mich bis zu diesem Moment geschämt oder schuldig gefühlt, bis ich verstanden habe das es einfach eine normale körperliche Reaktion war. Mein Körper hat mich beschützt, damit es nicht noch mehr weh tut. Der Orgasmus hat für mich nie etwas daran geändert, dass es ein ungewollter sexueller Übergriff meines Stiefvaters war.
In dem Moment ist meine Mutter an meinem Zimmer vorbeigegangen
Ich kann mir heute nicht vorstellen, dass es meine Mutter nie hörte. Heute glaube ich, dass sie es wusste, aber nicht wahrnehmen wollte. Sie tat einfach so, als würde es nicht passieren. Ich hatte mir oft überlegt, es meiner Mutter zu sagen, aber ich hatte Angst, dass sie mir nicht glaubte. Außerdem drohte mir mein Stiefvater und sagte, es wäre zu viel für meine Mutter, sich damit auch noch auseinanderzusetzen. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Oma in Russland, doch auch ihr sollte ich es bloß nicht erzählen, da sie sonst einen Herzinfarkt bekommen würde. Hat er mir auf jeden Fall ja immer so erzählt. Also sagte ich nichts. Nur meine beste Freundin aus der Schule, die wusste davon.
2005 war ich über die Weihnachtstage wegen hohen Fiebers im Krankenhaus. Zwischen den Feiertagen kam ich wieder nach Hause. Als ich am nächsten Tag, morgens aufwachte, saß er wieder mal direkt an meinem Bett und hatte auch schon die Hand an meiner Vulva. In dem Moment ist meine Mutter an meinem Zimmer vorbeigegangen. Die Tür war nicht richtig zu und sie konnte deutlich seine Hand unter der Bettdecke sehen. Sie schrie “Was soll die Scheiße!” Da kam alles raus. Endlich, dachte ich. Es folgte ein Drama, in dem ich eine Nebenrolle spielte.
Meine Mutter reagierte im späteren Verlauf nicht wie eine Mutter
Meine Mutter, die “Betrogene” weinte laut, mein Stiefvater rutschte auf seinen Knien vor ihr hin und her und entschuldigte sich, was für ein schlechter Mensch er doch sei, dass er sich am nächsten Baum aufhänge, etc. etc. Meine Mutter hat nie mit mir über die Details des Missbrauchs gesprochen. Sie hat nicht gefragt was mir genau passiert ist, sie wollte von mir ständig die Bestätigung, dass ich es niemanden erzählt habe.
Meine Mutter reagierte im späteren Verlauf nicht wie eine Mutter, deren Kind, das passiert ist, sondern wie eine betrogene Frau. Sie ließ mich spüren, dass sie mir nicht vertraute und reagierte unterschwellig, als hätte ich sie betrogen!
In dieser Familie bin ich noch weiter aufgewachsen. Der Stiefvater fasste mich zwar nicht mehr an, aber er war weiterhin Teil der Familie. Ich musste ihn auch weiterhin „Papa“ nennen. Immerhin bekam ich einen Schlüssel für mein Zimmer, so dass ich mich „sicher“ fühlen konnte. Wenn ich nachts weinte, hämmerte meine Mutter wütend gegen meine Tür und wenn ich sie rein ließ, meckerte sie mich an ich solle doch endlich Ruhe geben.
Ich habe das Gefühl, dass meine Liebe für „die Eltern“ ausgenutzt wurde, so dass ich nichts sagte. Es wurde stillschweigend ignoriert, was mir sexuell übergriffiges passiert war. Das war viel schlimmer als der Missbrauch an sich.
Als ich dann meine erste Beziehung führte habe ich mir die Frage gestellt, ob ich jetzt eigentlich schon mein erstes Mal hatte. Sollte ich meinem Freund von dem Missbrauch erzählen? Ich sprach darüber. Seine Reaktion war: „Oh Gott. Hat er ein Kondom benutzt?“ – Seine Reaktion erschrak mich, da es auf mich unsensibel wirkte. Mit dieser Frage stellte er dieses Detail in den Vordergrund, aber wie sollte er es besser wissen? Das ist es eben, was man mit 15 oder 16 über Sexualität gelehrt bekommt: „Werde bloß nicht schwanger, fang dir bloß nichts ein.“ Es geht nicht um Gefühle und Grenzen.
Ich habe es weiteren Menschen erzählt, als es vorbei war. Aber häufig konnten sie nicht damit umgehen. Ich habe es FreundInnen gesagt, die es wiederum ihren Eltern sagten. Es gab laute Gerüchte und mein Onkel hat daraufhin in seiner ganzen Nachbarschaft verbreitet, dass seine Nichte ein Verhältnis mit seinem Schwager hätte. Es folgten Gespräche mit der Schulsozialarbeit, dem Jugendamt, aber nie wurde etwas unternommen, um mir zu helfen.
Ich empfinde mich nicht als Opfer, ich empfinde mich als Überlebende. Ich habe mich gefragt, ob es gesund für mich ist, in dieser Familie zu bleiben. Mit 21 Jahren bin ich zu Hause ausgezogen, aber erst mit 29 Jahren habe ich endlich mit meiner Mutter und dem Stiefvater den Kontakt abgebrochen. Ich habe mich aus diesem “Familienkonstrukt” vollständig herausgezogen. Vor ein paar Monaten habe ich drei Menschen angezeigt. Ich hatte plötzlich einfach genug davon, dass ich als Überlebende gefragt werde, warum ich den nichts gesagt hätte und nicht die Verantwortlichen, warum sie das getan haben.
Die Gedanken an die sexualisierte Gewalt, die mir widerfahren ist, waren anfangs immer da, aber sie haben mich und meine Sexualität nicht gebrochen. Leider habe ich keinen guten Therapeuten für mich finden können. Ich war schon immer sehr kommunikativ und das ist auch so geblieben. Dadurch kam ich den Therapeuten häufig schon als reflektiert vor. Weil ich so “entspannt” darüber reden konnte, sahen sie mein Leiden nicht. Dabei hat mir das Reden, glaube ich, viel dabei geholfen, die Erfahrungen zu verarbeiten. Ich wollte verstehen, wie mir das passieren konnte, woran es lag. Gab es andere, denen es ähnlich ergangen war?
Obwohl ich nie aktiv an dem Thema Sexualität gearbeitet habe, empfinde ich meine Sexualität als positiv und erfüllt. Ich habe sehr viel an mir und meiner Persönlichkeit gearbeitet, also an Themen wie Selbstwert, Selbstliebe, Grenzen setzen, Bedürfnisse und Wünsche äußern.
Mehr als in meiner Sexualität, habe ich mich durch meinen Körper eingeschränkt gefühlt. Während des Missbrauchs habe ich meinen Körper kaum wahrgenommen. Ich habe versucht, meinen sehr weiblichen Körper mit großer Oberweite, schmaler Taille und breitem Becken zu verstecken und war selbst meist in schwarz gekleidet. Mein Körper war eher Ballast und ich hatte in dieser Phase meines Lebens sehr an Gewicht zugenommen. Erst durch meine erste Schwangerschaft habe ich meinen Körper wieder lieben gelernt. Ich war überrascht und glücklich, dass mein Körper etwas so Süßes, Schönes, Knuffiges hervorbringen konnte. Ich war so dankbar für diesen Körper.
Seit 10 Jahren bin ich in einer schönen, wohlwollenden und achtsamen Beziehung. Mittlerweile polyamor, die anders als viele meinen, mit viel Vertrauen und Verbundenheit gekoppelt ist - ohne geht es einfach nicht. Ich arbeite als zertifizierte systemische Beraterin und begleite Menschen in Themen wie die eigene emotionale Welt, Bedürfnisse, Gefühle, Grenzen und die ganze Kommunikation darüber. Zusätzlich arbeite ich noch in dem Bereich der Aufklärung und Sexualbildung.
Die Schwangerschaften, die Polyamorie mit der ganzen Kommunikation, die dafür unabdingbar ist und der Solosex, also die Fähigkeit, dass ich mich auch selbst zum Orgasmus bringen kann, haben mich meinem Körper näher gebracht und mir geholfen, meine ganz eigene Sexualität zu finden, zu leben und zu lieben.