“Willst Du mit mir gehen?” (Paula, 31)

Heute habe ich von einem Jungen geträumt, mit dem ich die erste körperlich-erotische Erfahrung gemacht habe. Nach 7 Jahren Leben als Witwe hat sich meine Mutter entschieden, eine neue Ehe einzugehen und ich (damals fast 18 Jahre alt) freundete mich mit dem 16-jährigen Nachbar ihres Gatten an. Wir haben uns oft in der Gruppe mit anderen Altersgenossen getroffen und zusammen gefeiert. K. war der erste Junge, der mir direkt gesagt hat, ich wäre sehr attraktiv und hübsch. In meinen Augen war er also der Erste, der “keine Angst vor mir hatte”, für den ich “richtig” war. Wir haben eines Abends gewettet, ob ich mich denn trauen würde, nach der Disco zu ihm nach Hause zu gehen. Ich bin tatsächlich gegangen und habe dort fast die ganze Nacht verbracht. Ich erinnere mich, dass ich sehr aufgeregt und gestresst, aber auch neugierig und erregt gewesen war. Vor lauter Aufregung war ich wie gelähmt. Wir haben uns geküsst (ich zum ersten Mal), aber es war nicht sehr angenehm - eher “mechanisch” und ohne Gefühl.

Zum Zusammensein gehörte für mich damals, dass der Mann danach fragt (“Willst Du mit mir gehen?”), Händchenhalten, viel Zeit gemeinsam verbringen etc. 

Wir hatten Petting gemacht, aber es kam nicht zur Penetration, da es mir zu schnell wurde. Nach Hause kam ich total durcheinander und im Rausch. Trotz mehrerer Versuche seinerseits (im Zelt, hinter dem Discogebäude) kam es nie zum “richtigen” Sex. Begleitet wurde ich stets von Scham, Angst und Verunsicherung. Der Junge hat mein Bedürfnis nach körperlicher Nähe enthüllt/geweckt und mich dadurch sehr angezogen, das Verhältnis fühlte sich allerdings nicht “richtig” an, da wir uns ausschließlich im Verborgenen nah kamen. Vor Anderen haben wir nicht gezeigt, dass wir zusammen sind. Bis heute weiß ich nicht, ob wir es waren. Zum Zusammensein gehörte für mich damals, dass der Mann danach fragt (“Willst Du mit mir gehen?”), Händchenhalten, viel Zeit gemeinsam verbringen etc. 

Allerdings spürte ich damals eine große Angst vor Schwangerwerden. 

Wir haben nie mehr als ein paar Worte getauscht. Wir hatten keine gemeinsamen Hobbys. Er war für mich kein intellektueller Gesprächspartner und dazu noch fast zwei Jahre jünger als ich, was mich wegen seiner Minderjährigkeit zusätzlich störte. Er war einfach mutig, direkt, wollte Sex und hat in mir diesen besonderen, lebendigen, erotischen Energiestrom aktiviert. Ich wiederum wollte mit einem Jungen zwar sexuell, aber auch emotional zusammen sein. Allerdings spürte ich damals eine große Angst vor Schwangerwerden. Seine Mutter hat ihre akademische Karriere aufgeben müssen, nachdem sie mit ihm schwanger wurde. Irgendwie projizierte ich dies auf mich und habe deshalb jegliche Versuche in Richtung Penetration abgelehnt. Auf K. wirkte es frustrierend und er wurde mir gegenüber immer distanzierter. Er hat mich noch zum Abiball begleitet, mir dort aber auch schon mitgeteilt, dass er ein anderes Mädchen trifft, das “offener” als ich wäre. Es war ein herzbrechendes aber klares Statement für mich. Er hat zwar die sogenannte “Freundschaft+” (den Begriff kannten wir damals gar nicht) angeboten, dies entsprach allerdings nicht meinem damaligen Wunsch nach dem Kontakt zu ihm.

Erneut wurden meine Grenzen überschritten. 

Viele Kontakte mit Jungs liefen damals anonym über die ersten Chats, die dank der noch jungen Netztechnologie auf den Markt gekommen sind. Wir besuchten oft die sogenannten Internetcafes, wo wir Zugang zur ICQ hatten. Einen dort kontaktierten Jungen habe ich sogar Briefe in seinen Briefkasten reingesteckt, ihn aber nie live treffen wollen, obwohl er es vorgeschlagen hatte. Meine Angst vor Ablehnung seinerseits war überwältigend. Mein erstes offizielle Date kam auch durch diese App zustande. Das Chatten mit dem jungen Mann war interessant, nun aber als wir uns getroffen haben, verfiel ich erneut in Anspannung und unangenehme Aufregung. Er hat mir optisch nicht gefallen. Nach relativ kurzer Zeit initiierte er den physischen Kontakt, d.h. fasste mich an und umarmte meine Taille, was in meinen Augen ein Anzeichen für eine feste Beziehung war. Mir war es höchst unangenehm, ich fühlte mich wie gelähmt. Erneut wurden meine Grenzen überschritten. Ich war nicht imstande, mich dagegen zu wehren und leistete keinen sichtbaren Widerstand. Nach dem Treffen habe ich den Kontakt abgebrochen und nur noch selten mit fremden Jungs geschrieben.

Ich war eine “Liebesanalphabetin”. 

Ich war bis zu meinem 23. Lebensjahr sehr gläubig und in der Kirche aktiv. Ich gehörte zu einem bilingualen Chor und wir traten immer wieder in Deutschland auf. Einmal spielten wir während der Reise Flaschendrehen und ich wurde von einem erwachsenen männlichen Teilnehmer auf die Lippen geküsst. Es war für mich sehr erregend, überraschend und mein erster Kuss mit einem fremden Mann. Wir hatten in meiner Lyzeum-Klasse viele Jungs und mit einigen von ihnen verbrachte ich viel Zeit. Einzelne waren in mich verliebt, haben es aber nie direkt mitgeteilt bzw. erst, als das Gefühl vorbei war. Ich spürte immer eine gewisse Anspannung und einen bestimmten Druck in dem Unterbauch, wenn ich mit ihnen kommunizierte, konnte es aber nicht entziffern. Grundsätzlich war Liebe und Beziehung in diesem Zeitraum eine Fremdsprache für mich, zum Erlernen derer ich keinen Zugang kriegen konnte. Ich war eine “Liebesanalphabetin”. Allerdings führte mich mein Verliebtheitszustand zu einer unglaublichen Ressource- bzw. Energiequelle hin, die mich aktiv und leistungsstark machte. Als ich mich in meinem Englischlehrer verknallte, war ich die Beste in dem Fach in der ganzen Schule.

Im Religionsunterricht wurden uns Anti-Abtreibungsfilme gezeigt 

Sexualkunde wurde von den LehrerInnen wie ein Stiefkind behandelt: Entweder schauten wir uns langweilige anatomielastige Filme an oder “durften” Bravos lesen. Im Religionsunterricht wurden uns Anti-Abtreibungsfilme gezeigt und die sexualfeindliche Morallehre beigebracht. Ich hatte zum Ziel, Jungfrau bis zur meinen Hochzeit zu bleiben. Von der Kirche übernahm ich auch das Ideal der artigen, bescheidenen und reinen Frau, die auf den perfekten, guten religiösen Ehemann wartet. In den letzten zwei Jahren spüre ich in mir viel Trotz/Widerstand und glaube, dass diese Gefühle - unterdrückt durch meine Familie, Kirche und Gesellschaft - in meiner früheren Lebensphase kaum präsent waren. Diese Gefühle wurden verdrängt durch Disziplin, Schweigen bzw. Glaubenssätze unreflektiert zu internalisieren, Bevormundung der Frau und Kritik, wenig Lob und viel Bestrafung, endlose Angstmacherei und kaum Beachtung für kindliche Bedürfnisse, die sich durch “negative” Handlungen oder Äußerungen zeigten.

Als Skandal galt bspw., vor dem 18. Lebensjahr schwanger zu werden.

In den 90./2000. Jahren haben wir über Sexualität intuitiv gelernt, uns unter AltersgenossInnen ausgetauscht und wussten - u.a. dank der Kirche - was wir nicht dürfen und was “sich nicht gehört”. Unsere Eltern kommunizierten mit uns kaum darüber, da sie weder über den entsprechenden Wortschatz verfügten, noch gehörte es aus ihrer Sicht zur Erziehung dazu. Viele Verhaltensweisen und Handlungen, die heute als Missbrauch bzw. Grenzüberschreitung definiert werden, erfolgten selbstverständlich und ohne jegliche Proteste seitens Erwachsener. Als Skandal galt bspw., vor dem 18. Lebensjahr schwanger zu werden. Diese “Straftat” endete meist mit einem von den Eltern organisierten Heirat.

Erst als mich der Fahrer zwei Mal nach “meinem Preis” fragte, stellte ich schockiert fest, dass er mich als Sexworkerin wahrgenommen hatte. 

Auf der anderen Seite bin ich  an einem Ort und in einer Zeitaufgewachsen, in  die Kontrolle seitens Erwachsener relativ gering war, es kaum Straßenkriminalität gab und wir in einem großen Vertrauensverhältnis groß werden durften. Einmal nachts bin ich auf dem Weg von einer Party nach Hause in einen LKW eingestiegen - vollkommen überzeugt, dass es eine Mitfahrgelegenheit sei. Erst als mich der Fahrer zwei Mal nach “meinem Preis” fragte, stellte ich schockiert fest, dass er mich als Sexworkerin wahrgenommen hatte. In Panik erklärte ich ihm, dass ich es nicht sei und ich gerne aussteigen würde. Er hat mich an einer Tankstelle rausgelassen. Ich hatte sehr viel Glück und wäre in meiner damaligen naiven Vorstellung nie drauf gekommen, dass mich jemand als Prostituierte definieren und im schlimmsten Fall vergewaltigen könnte.

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“In der Realität wäre das ein absoluter Abtörner” Finja, 29

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“Ich habe bis heute mit niemandem darüber geredet” Ria, 27