“Wie ich in eine polyamore Beziehung gecrasht bin” Anna, 36 Jahre
Mein Lebensgefährte und ich sind zusammen gekommen, als wir noch Teenager waren. Mit allen Höhen und Tiefen haben wir nun schon über 20 gemeinsame Jahre miteinander verbracht und ich möchte keine Episode aus dieser Zeit missen. Immer wenn jemand mich fragte (und dieser jemand konnte ein Mensch im Außen oder auch eine eigene innere Stimme sein): "Wirst du nicht irgendwann bereuen, immer nur mit diesem Mann zusammen gewesen zu sein und das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben?", reagierte ich trotzig und hatte viele Gründe - echte Gründe - parat, warum unsere Verbindung, eine damals unhinterfragt monogame Beziehung, viel mehr wert war als irgendwelche "Abenteuer" oder das ewige Kennenlern- und Trennungsdrama, das wir bei anderen beobachteten. Niemals wollte ich diese Beziehung und diesen Mann nur dafür opfern, nicht als langweilig dazustehen oder meine eigene, vermeintlich flüchtige Abenteuerlust zu beruhigen.
Ich kann nicht sagen, ich hätte mir "Polyamorie" als Konzept ausgesucht.
Mit den Jahren fand ich es jedoch immer schwieriger, keine Sehnsüchte nach anderen Männern zu haben. Diese konnte ich meistens irgendwie jedoch wieder wegdrücken. Im Nachhinein merke ich, dass das ein emotional nahezu selbstverletzendes Verhalten war. Aber mein bis dato unhinterfragtes Moralzentrum setzte romantische oder erotische Gefühle anderen Menschen als dem Partner gegenüber mit dem Bösen schlechthin gleich. Diese angebliche und ungeschriebene Übereinkunft, dass alles, was "Fremdgehen" nahekommt, in sich das Böse ist und absolut unverzeihlich und ein großer Verrat... Diese krassen Schuldgefühle sind heute noch, nach einem Jahr gelebter neuer Beziehungsform, das Schlimmste, was mich manchmal heimsucht, wenn ich ins Zweifeln komme. Ich kann also nicht sagen, ich hätte mir "Polyamorie" als Konzept ausgesucht. Nicht, weil ich früher etwas dagegen gehabt hätte. Es kam in meiner Welt schlicht nicht vor. Es war außerhalb des Denk- und daher auch des Machbaren. Aussprechbar war es allein schon deshalb nicht, weil ich gar kein Wort dafür hatte. Mit anderen was haben war Fremdgehen, war verboten, war böse.
…versucht, mir diese Schockverliebtheit auszureden
Und dann hatten mein Lebensgefährte und ich einen Verkehrsunfall. Und da war ein Ersthelfer. Und neben all den Blessuren an Leib und Seele und neben all dem kaputten Blech verlor ich schlagartig mein Herz an diesen fremden Mann. Natürlich hatte ich viele rationale Gründe dafür, warum das alles nur an der Situation liegt und habe wie gewohnt versucht, mir diese Schockverliebtheit auszureden. Ohne Erfolg. Er besuchte uns im Krankenhaus, er war lieb, er war nett, er war umwerfend, ich hatte viele Gemeinsamkeiten mit ihm, wir schrieben, wir telefonierten, wir verabredeten uns. Erst zu dritt, dann ich und er allein. Er blieb in unserem Leben. Nun schon seit Jahren. Als mir und ihm klar wurde, dass wir erstens jede/r für sich heimlich seit dem ersten Tag ineinander verliebt waren und als uns dann klar wurde, dass es auf Gegenseitigkeit beruht, wussten wir alle nicht, was wir tun sollten.
Zunächst kam für eine Zeit von wenigen Wochen unser ganzes gemeinsames Leben ins Wanken
Ich habe schnellstmöglich mit meinem Lebensgefährten über die Gefühle gesprochen. Das schreibt sich so leicht - aber es war das Schwerste, was ich mich bis dato beziehungstechnisch trauen musste. Denn das war ja alles "böse" und "falsch" und ich hatte nach damaligen Standards verrückterweise nicht das Gefühl, dass meine Liebe zu meinem Partner weniger geworden wäre. Ich sehnte mich einfach zusätzlich nach diesem Mann. Zunächst kam für eine Zeit von wenigen Wochen unser ganzes gemeinsames Leben ins Wanken, indem wir alles infrage stellten und dachten, dass das alles falsch sei. Aber je ehrlicher ich meinem Partner gegenüber war und je mehr ich ihm klarmachen konnte, dass meinerseits KEINE Trennung nötig sei, dass ich im Gegenteil wahnsinnig Angst hatte, ihn zu verlieren, umso mehr öffnete er sich für den Gedanken, dass es tatsächlich stimmen könnte und ich nicht aufhörte ihn zu lieben, weil ich jetzt auch in den neuen Mann verliebt war.
Der Begriff “Polyamorie” kam erst irgendwann mittendrin auf mich zu.
Bis heute kommt es mir selbst komisch vor und ich leide extrem unter Angst, Schuld und Scham. Aber je mehr ich denke, mit den Männern spreche und über Polyamorie lese, desto weniger fühle ich mich krank oder verrückt. Und umso sicherer fühlen wir uns alle. Der Begriff “Polyamorie” kam erst irgendwann mittendrin auf mich zu. Als ich davon das erste Mal las, brach ich in Tränen der Erleichterung aus, dass andere Menschen dieses Gefühl kennen und das Leben mit mehreren Geliebten versuchen, ohne einander zu belügen und somit auch nicht zu betrügen. Wir sind alle Neulinge. Wir haben noch nicht alle Fragen geklärt, noch nicht alle Begriffe, die wir vielleicht brauchen. Noch nicht das finale Coming Out nach außen geschafft. Aber in unserer Konstellation herrscht Respekt, Freundschaft unter den Männern und viel Liebe. Auch viel Unsicherheit, aber auch viel Leidenschaft. Mehr denn je.
Der Sex, mit jedem von beiden, ist der beste, den ich je hatte.
Der Sex, mit jedem von beiden, ist der beste, den ich je hatte. Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich wahrhaftig geliebt und begehrt und ich glaube, das liegt daran, dass ich mich selbst und meine Sehnsüchte anders zulasse. Es ist extrem anstrengend, aber wahnsinnig bereichernd. Ich wünsche mir, dass wir den Weg weitergehen und an den Herausforderungen wachsen. Trotz großer Angst vor quälender Eifersucht wünsche ich den Männern auch, dass sie ebenfalls solche Erfahrungen mit anderen zusätzlichen Frauen machen dürfen, es wäre aber schön, wenn ich für sie genauso wichtig bleiben dürfte und wenn sie sich mir anvertrauen würden. Genau, wie ich es eben auch erlebe. Mehr Liebe. Für alle :-) Eifersucht quält mich, aber ich möchte mich ihr ehrlich stellen und mich nicht von ihr blockieren lassen. Ich denke, wir alle können wachsen, wenn wir offen und freundlich mit unserer eigenen Eifersucht umgehen. Es bleibt spannend.