“Wie wollen wir unsere Beziehung gestalten?” Rieke, 28
Mein Freund und ich sind seit 5 Jahren zusammen und seit 3 Jahren leben wir nicht-monogam.
Als mein Freund mich nach 2 Jahren monogamer Beziehung körperlich betrogen hat (das heißt, Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person hatte), habe ich gemerkt, dass mich das überhaupt nicht stört. Ganz im Gegenteil sogar: Ich war total neugierig und wollte alles über seine Erfahrung wissen! An diesem Tag wurde mir klar, dass ich das monogame Beziehungskonzept einfach unhinterfragt von der Gesellschaft übernommen habe und das gar nicht zu meinen Werten und Bedürfnissen passt. Darauf folgten ein paar Wochen intensiver Gespräche, in denen wir uns zum ersten Mal gefragt haben: Wie wollen wir unsere Beziehung gestalten? Was ist uns wichtig? Was brauchen wir? Und so öffneten wir unsere Beziehung auch für intime Begegnungen (sowohl emotional als auch körperlich) mit anderen Menschen und merkten, dass uns das viel zufriedener macht.
Wir wohnen nicht zusammen, sondern 250 km voneinander entfernt. Also eine nicht-monogame Fernbeziehung. Unsere Liebschaften meistens Freunde/Freundinnen sind, die wir beide kennen. Das ist für uns völlig normal, dh. wir hängen mit den Liebschaften des anderen auch mal zusammen ab (Wandern, Spieleabend oder so.).
Dann habe ich den beiden viel Spaß gewünscht, im Wohnzimmer weiter gearbeitet
Wir kommunizieren sehr viel miteinander und schauen, dass es immer für alle beteiligten passt. Im Lockdown war ich zB mehrere Wochen bei meinem Partner. Ich habe im Wohnzimmer gearbeitet und er hat von einer Freundin Besuch bekommen. Als die zwei merkten, dass sie Lust haben miteinander zu schlafen, haben sich mich gefragt, ob das für mich in Ordnung ist. Ich habe gesagt, dass das für mich okay ist, nur dass sie die Laken in unserem Bett danach neu beziehen sollen. Dann habe ich den beiden viel Spaß gewünscht, im Wohnzimmer weiter gearbeitet und das Schlafzimmer war für mich für die nächste Stunde tabu. Es ist aber auch völlig okay zu sagen, dass man damit gerade nicht umgehen kann oder dass es einem gerade zu nah geht oder oder... Wir sprechen einfach immer über unsere Bedürfnisse.
"Wir erzählen uns immer alles, was uns bewegt"
Am Anfang hatten wir mehrere Regeln, aber davon übrig geblieben sind nur "Wir erzählen uns immer alles, was uns bewegt" und "Immer mit Kondom verhüten". Andere Regeln wie "Nicht mit Freund*innen intim werden" haben wir mit der Zeit über Bord geworfen, da wir gemerkt haben, dass es für uns okay ist auch mit Freund*innen intim zu sein.
Wir wissen beispielsweise immer, wer wann auf einem Date ist. Dadurch reden wir viel häufiger, ausführlicher und ehrlicher als früher über unsere (sexuellen) Bedürfnisse, was uns als Paar viel enger zusammenschweißt und unser Vertrauen immens stärkt.
Wir sehen andere Partner eigentlich fast immer über längere Zeiträume. Wir mögen beide nicht so gerne One-Night-Stands, sondern legen viel Wert auf eine emotionale Zuneigung bei unseren Sexualpartner*innen. So kommt es, dass wir meistens nur eine Person neben unserer Beziehung treffen und es dafür umso intensiver ist. Oft sind diese Menschen dann auch unsere Freund*innen.
Verliebt hat sich bisher niemand von uns, aber verknallt
Eifersucht tritt dabei sehr selten auf, da wir eine starke Kommunikationsbasis haben und wissen, dass wir die Zukunft miteinander planen. Was bei mir eher ein Problem war am Anfang war, dass ich mich mit den Sexpartnerinnen meines Freundes verglichen habe. Das habe ich vor allem dann gemacht, wenn ich sie (noch) nicht kannte und da kamen dann echt harte Gedanken und Selbstzweifel auf, mit denen ich erstmal lernen musste umzugehen. Mittlerweile ist das aber nicht mehr so, da ich mich in der Beziehung zu meinem Freund so sicher fühle und mich auch mehr lieben gelernt habe.
Verliebt hat sich bisher niemand von uns, aber verknallt waren wir beide schon für ein paar Wochen. Wir genießen dann das Gefühl und freuen uns für den anderen, wissen aber mittlerweile aus Erfahrung, dass dieses Verknalltsein irgendwann nachlässt. Wir sind uns so sicher miteinander und haben uns füreinander und eine gemeinsame Zukunft entschieden, dass es uns keine Angst macht, wenn wir mal verknallt sind. Das steht unserer innigen Beziehung ja nicht im Weg.
Es ist uns wichtig, dass wir unsere Lebensweise nicht verstecken müssen
Unsere Family & Friends wissen alle von unserer Öffnung und wir gehen da sehr offen mit um. Es ist uns wichtig, dass wir unsere Lebensweise nicht verstecken müssen. Mein Freund erzählt auf seiner Arbeit beispielsweise auch, dass er eine offene Beziehung führt, ich wiederum nicht aus verschiedensten Gründen. Die Reaktionen sind meistens sehr interessiert und neugierig. Manche finden das total mutig und inspirierend, andere sagen aber auch offen, dass sie das komisch finden. Ich glaube aber auch, dass das Bild einer offenen Beziehung sehr auf den Sex reduziert ist. Also viele wundern sich dann, warum wir unbedingt mit anderen Menschen schlafen wollen, dabei ist das gar nicht mein primäres Bedürfnis. Vielmehr geht es mir darum, in allen Bereichen meines Lebens selbstbestimmt zu sein. Frei durchs Leben zu gehen und keine Besitzansprüche an meinen Partner zu stellen. Ich genieße es beispielsweise sehr, einfach im Bus zu sitzen, eine attraktive Person zu sehen und einfach zu denken "wow, was für eine attraktive Person", ohne dass ich gleich denke "ach nee, ich bin ja vergeben" und schnell weggucke. So kann ich den Moment einfach genießen und schauen, was passiert. Die offene Beziehung gibt mir vor allem mehr Freiheiten im Denken.
Unseren Eltern ist das mehr oder weniger egal, ihnen ist nur wichtig, dass keine ungewollten Schwangerschaften entstehen.
…ganz viele neue Ideen, Praktiken, Berührungen
Die Beziehung zwischen mir und meinem Freund ist auf jeden Fall die Primärbeziehung, da wir emotional eine sehr starke Bindung haben und die Zukunft miteinander planen. Es kommt durch die Fernbeziehung zwar vor, dass wir mit anderen Personen mehr Zeit verbringen als mit einander, aber das schmälert unsere Verbundenheit nicht.
Die Öffnung hat auch meinen sexuellen Horizont sehr stark erweitert und mich als Frau viel selbstbestimmter gemacht. Am Anfang haben wir ganz viele neue Ideen, Praktiken, Berührungen in unser Sexleben getragen und so unsere Routine etwas gelockert. Das war total toll!
Ich denke, dass uns die offene Beziehungsform einen bedeutenden Schritt als Individuum und als Paar vorangebracht hat. Erst dadurch habe ich gelernt, auf wie viele wundervolle Arten und Weisen man Sex haben kann!